New Yorks schlimmste Katastrophe vor „9/11“ besiegelte Kleindeutschlands Ende - WELT (2024)

New Yorks schlimmste Katastrophe vor „9/11“ besiegelte Kleindeutschlands Ende - WELT (1)

Die Tragödie ereignete sich ausgerechnet am „Hell Gate“ – einer gefährlichen Flussenge im New Yorker East River, die für ihre Stromschnellen berüchtigt war. Ein dreistöckiger, hölzerner Schaufelraddampfer namens „General Slocum“ war am frühen Vormittag des 15. Juni 1904 vom Pier der East 3rd Street Richtung Long Island aufgebrochen. Mit seinem 76 Meter langen Rumpf galt er als das „größte und glanzvollste Ausflugsschiff New Yorks“.

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Das Ziel an jenem Mittwochmorgen war ein Picknick, das die Sonntagsschule der lutherischen Kirchengemeinde St. Marks alljährlich organisierte. Unter den über 1300 Passagieren herrschte eine fröhliche Stimmung, hauptsächlich waren Frauen und Kinder an Bord.

Doch schon bald nach dem Ablegen brach im Laderaum des Schiffes ein Feuer aus, möglicherweise durch eine weggeworfene Zigarettenkippe. Weil das Manövrieren am „Hell Gate“ schwierig war und zudem Öltanks das Ufer säumten, entschloss sich der Kapitän zur Weiterfahrt und steuerte mit Volldampf auf eine kleine Werft auf North Brother Island zu, in der Hoffnung, die rund eine Meile noch zu schaffen.

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Das Manöver hatte einen fatalen Ausgang. Der Fahrtwind entfachte die Flammen erst recht, und wenig später waren 1021 Passagiere tot – sie waren in den Flammen umgekommen oder ertrunken. Da Kinder keine Fahrscheine benötigten, lag die Zahl wahrscheinlich noch um einiges größer.

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Nur 321 Passagiere überlebten. Retter berichteten von toten Kindern, die im Fluss trieben. Noch Tage später wurden Leichen an die Ufer der Metropole gespült. „Ein Horrorspektakel, das sich mit Worten nicht beschreiben lässt“, titelte eine Zeitung.

Die Zahl der Opfer war auch deshalb so hoch, weil die Knickerbocker Steamship Company ihren Luxuskreuzer seit seinem Stapellauf 1891 bei der Wartung vernachlässigt hatte. Der Kork der Schwimmwesten hatte sich mit der Zeit aufgelöst. Die Rettungsboote waren zwar beizeiten lackiert, dabei aber mit dem Schiffsrumpf verklebt worden. Löschversuche scheiterten, weil die morschen Wasserschläuche dem Druck nicht standhielten. Die für einen solchen Ernstfall kaum trainierte Besatzung reagierte kopflos. „Es ist, als ob wir die Hölle selber löschen müssten“, meldete die Crew dem Kapitän.

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Es war die größte Tragödie in New York bis zum Terroranschlag auf das World Trade Center vom 11. September 2001, fast ein Jahrhundert später. Der Schiffskapitän wurde zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt, von denen er allerdings nur drei Jahre absitzen musste. Die Direktion der Reederei ließ man dagegen ungeschoren davonkommen. Präsident Theodore Roosevelt berief eine Untersuchungskommission ein und erließ strengere Sicherheitskontrollen für Passagierschiffe.

Das Desaster hatte bleibende Auswirkungen auf die Stadt: Ein ganzes Viertel Manhattans sollte sich davon nicht mehr erholen, nämlich „Little Germany“ oder Kleindeutschland an der Lower East Side, das Zentrum der deutschen Einwanderer. Und das waren nicht wenige: Keine andere Stadt hatte seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine so starke deutsche Zuwanderung wie New York erlebt, das nach Berlin und Wien zur Stadt mit den meisten deutschen Einwohnern wurde.

Im „Deutschlandle“ stellten deutsche Immigranten bis zu 45 Prozent der Bevölkerung, man sprach deutsch und heiratete untereinander, las deutschsprachige Zeitungen und traf sich in Kirchen, Volkstheatern, Vereinslokalen und Biergärten. Das Leben in der deutschen Enklave hat die Historikerin Ilona Stölken in ihrem Buch „Das deutsche New York“ (Lehmstedt Verlag, 2013. 280 Seiten) nachgezeichnet.

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Hier hatte sich die Gemeinde St. Marks befunden, welche die schicksalhafte Bootstour organisiert hatte und die bei der Tragödie hunderte Mitglieder verlor. Immer mehr Deutschstämmige verließen nun die Gegend, weil sie die Erinnerung an den Verlust ihrer Familienangehörigen nicht mehr ertrugen.

Die „Slocum“-Katastrophe war zwar nicht der Auslöser für das Verschwinden Kleindeutschlands, aber sie verstärkte die Auflösungserscheinungen und beschleunigte das Ende des deutschen Charakters der Gegend. Dieses hatte sich bereits seit den 1880er-Jahren abgezeichnet. Denn die Gegend war alles andere als malerisch: Immer mehr Einwohner hatten sich zuletzt in überfüllten Mietskasernen ohne fließendes Wasser gedrängt, Seuchen grassierten, im östlichen Teil befanden sich Kohlenlager, Werften, Brauereien und Schlachthäuser, die einen beißenden Gestank verbreiteten.

Wer es sich leisten konnte, ließ die vollgestopften Straßen und Hinterhöfe Kleindeutschlands hinter sich, um nach Norden in die neuen und modernen Bauten oberhalb der Houston Street zu ziehen, die dort in rasantem Tempo hochgezogen wurden. Zudem strömten immer mehr Einwanderer aus Osteuropa und Italien in die Lower East Side. Die Deutschen wichen mit ihren Unternehmen nicht nur nach Norden aus, sondern auch aus Manhattan hinaus, etwa nach Brooklyn, das durch die 1883 fertiggestellte Brooklyn Bridge nun viel besser angebunden war.

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Neben einer kleineren Zahl von Akademikern bestand die deutsche Gemeinschaft zuvor vor allem aus Arbeitern und Handwerkern – die besser als etwa die Iren ausgebildet und daher als Arbeitskräfte in der expandierenden Stadt sehr begehrt waren. An New Yorks rapidem wirtschaftlichen Aufschwung hatten sie somit erheblichen Anteil.

Eine deutsche Domäne wurde die Nahrungsmittelindustrie. Das Bierbrauen war fest in deutscher Hand, aus zunächst kleinen Brauereien wurden bis ins späte 19. Jahrhundert riesige Betriebe. Auch deutsche Fleischer und Bäcker hatten in der Stadt hohe Marktanteile. Die größte Gruppe deutscher Immigranten arbeitete aber in der Bekleidungsindustrie, oft in Heimarbeit. Neben weiteren produzierenden Berufen wie Tischlern waren viele Deutsche auch im Handel tätig und unterhielten kleine „Krämerläden“. Deutsch-jüdische Einwanderer, die zu Hause von vielen Gewerben ausgeschlossen waren, hatten hier am meisten Expertise, sodass sie bald einen Großteil des Einzelhandels in New York kontrollierten. Ebenso vermochten sich deutsch-jüdische Banker in Konkurrenz mit den alteingesessenen angelsächsischen Geldhäusern New Yorks zunehmend zu etablieren.

Viele deutsche Einwanderer in den USA änderten seit jeher ihre Namen ab, um sich der angelsächsischen Leitkultur anzupassen. Der Assimilierungsdruck führte bereits um die Jahrhundertwende zu einer schwindenden Sichtbarkeit der Deutschamerikaner. Nach der „Slocum“-Katastrophe kam bald die Zäsur des Ersten Weltkriegs, und alles Deutsche geriet unter Generalverdacht. Den deutschen Amerikanern kam es ab dem Kriegseintritt der USA 1917 nur noch in Ausnahmefällen in den Sinn, das Banner deutscher Kultur hochzuhalten. Der Zweite Weltkrieg tat ein Übriges.

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Author: Allyn Kozey

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